EFB-Forschungsbericht Nr. 128

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Industrielle Anwendung von Werkzeugführungen als Analysesystem

Verfasser:
Hans-Wilfried Wagener, A. Wendenberg, Laboratorium für Verfahren und Werkzeugmaschinen der Umformtechnik, Universität-Gesamthochschule Kassel -
Wolfgang Voelkner, Frank Schirmacher, Lehrstuhl für Urform- und Umformtechnik, Technischen Universität Dresden

ISBN 978-3-86776-260-1 - 255 Seiten, 135,90 €


Zusammenfassung

EFB/AiF-Forschungsvorhaben 10880 B

Die Vorgänge der Blechumformung entziehen sich in der Regel der unmittelbaren Beobachtung. In der umformtechnischen Praxis bedeutet dies, dass der Betreiber der Anlagen oft auf das Erfahrungspotential des Bedienpersonals angewiesen ist. Da das Teilespektrum zunehmend komplexer wird, sind die bisher zur Anwendung kommenden empirischen Vorgehensweisen nicht mehr ausreichend.

Es wird ein Mess- und Analysesystem auf seine Anwendbarkeit in Bezug auf die Erkennung von Prozessfehlern und die Eignung zur On-Line-Prozessüberwachung untersucht. Das System nutzt die an den meisten Werkzeugen vorhandenen Führungselemente, Säulen oder Stollenführungen, als Sensoren. Die Versuchswerkzeuge sind mit Führungssäulen und/oder Führungsstollen ausgerüstet.

Die Führungssäulen werden durch die Applikation von Dehnungsmessstreifen und die Führungsstollen durch eine geeignete Sensorik als Kraftaufnehmer ausgerüstet. Bei den Werkzeugen handelt es sich um ein Tiefziehwerkzeug zur Herstellung von rotationssymmetrischen Näpfen, ein Tiefziehwerkzeug zur Herstellung von Tankhälften und um ein Schneidwerkzeug zur Herstellung von Platinen. Ferner kommen ein Tiefziehwerkzeug zur Herstellung von Kotflügeln und ein dreistufiges Fließpresswerkzeug und zwei Stahlguss- Versuchswerkzeuge zum Einsatz.

Als Versuchspressen stehen eine hydraulische 1.000 kN C-Gestellpresse, eine mechanische 2.500 kN Tor-Gestellpresse und eine hydraulische 5.000 kN Tor-Gestellpresse zu Verfugung. Außerdem werden eine in eine Coil-Anlage eingebundene 4.000 kN Tor-Gestell-Schneidpresse, eine 6.300 kN Zweiständer-Kniehebelpresse und eine mechanische 10.000 kN Torgestell-Lenkhebelpresse eingesetzt.

Die mit dem Mess- und Analysesystem gewonnenen Signale liefern qualitative und z. T. quantitative Hinweise über das Genauigkeitsverhalten des Systems Presse/Werkzeug, im wesentlichen in Bezug auf Kippung und Verlagerung. Während der Versuchsserien werden gezielt Fehler provoziert. Hierzu wird jeweils ein Prozessparameter im Vergleich zu einer Referenz variiert und Signaländerungen, die bei dieser Variation an den Säulen auftreten, den variierten Prozessparametern zugeordnet. Zusätzlich zu den Säulen montierte Führungsstollen haben nahezu keinen Einfluss auf das Genauigkeitsverhalten des Systems Presse/Werkzeug. Die Signalqualität der als Sensoren ausgerüsteten Führungssäulen wird durch die Stollen nicht beeinflusst.

Die Erkennung von Prozessfehlern ist auch hier gut möglich. Während des Prozesses auftretende Risse im Werkstück können messtechnisch mit dem System erfasst werden. Ferner wird das Führungsverhalten bei zusätzlich montierten Führungssäulen im dynamischen Belastungsfall ermittelt. Die beiden Führungssysteme werden in Kombination unterschiedlich stark belastet. Weiterhin zeigt sich, dass eine eingeleitete Horizontalkraft nur zu einem Teil von den Führungselementen aufgenommen und der andere Teil in das Gestell der Presse abgeleitet wird.

Die Untersuchung eines Groß-Versuchswerkzeugs dient zur Analyse der auftretenden Belastungsmomente bei hohlgebohrten Führungssäulen mit einem Außendurchmesser von 160 mm, die zusätzlich im Inneren mit DMS appliziert sind. Untersucht werden die Auswirkungen bei einer vertikalen Krafteinleitung und bei einer Krafteinleitung unter 45° im dynamischen Belastungsfall. Die Führungssäulen besitzen einen nahezu geradlinigen Biegemomentenverlauf, wie er durch die Krafteinleitung an der Säulenspitze entsteht. Bei einer horizontal eingeleiteten Kraftkomponente durch die Verwendung eines Schubbocks zeigen die inneren Messstellen hingegen einen geringen oder gar keinen Ausschlag. Die Krafteinleitung in die Führungssäulen erfolgt hierbei also nicht an der Säulenspitze sondern eher am Säulenfuß. Weitere Werkzeuge werden unter Industriebedingungen untersucht.

Bei dem Schneidwerkzeug, das auf der schnellaufenden Presse VP4 mit einer maximalen Hubzahl von 48 1/ min eingesetzt ist, handelt es sich um ein Problemwerkzeug; es wird im Hinblick auf Signaländerungen an den Führungssäulen während der Großserienfertigung überwacht und über mehrere Serien begleitet. Das Problem kann mit dem Mess- und Analysesystem problemlos erkannt werden, da die maximalen Momente an den Säulen erst nach dem Schnitt auftreten und auf eine zu tiefe Lage des UT zurückzuführen sind. Die eindeutig falsche Maschineneinstellung wird in Form von starken inneren Verspannungen der Säulen aufgrund der Werkzeugdurchbiegung verdeutlicht. Anhand des Industriewerkzeugs "Kotflügel" lassen sich die einzelnen Phasen des Tiefziehprozesses erkennen.

Auch die Richtung der einzelnen Säulenmomente und die innere Kraft geben einen guten Einblick in die während des Ziehprozesses herrschenden Verhältnisse im Werkzeug, z.B. das Auftreten einer Werkzeugdurchbiegung. Während einer Reihenuntersuchung wird die gesamte Produktion über fünf Schichten hinweg messtechnisch erfasst. In dieser Zeit werden ca. 11.700 Werkstücke produziert. Während der untersuchten Produktionsserie zeigen sich keine wesentlichen Veränderungen der Größe und der Richtung der einzelnen Säulenbelastungsmomente. Dieses Ergebnis belegt, dass die Produktion prozesssicher und konstant ohne Probleme abläuft. Produktionspausen werden vom Mess- und Analysesystem ermittelt, sie wirken sich in diesem Fall nicht negativ auf das Produktionsergebnis aus.

Beim Vergleich der Säulensignale einer ersten Reihenuntersuchung mit denen einer späteren Untersuchung sind geringe Änderungen an den einzelnen Säulenmomenten erkennbar, die durch eine veränderte Einbaulage des Werkzeugs entstanden sind. Das zu Vergleichszwecken untersuchte Drei-Stufen-Fließpresswerkzeug ergibt ebenfalls eine mit der Hilfe der ermittelten Säulenmomente gute Analysemöglichkeit des Umformprozesses. Jede einzelne Phase des Umformprozesses schlägt sich unmittelbar auf den Verlauf der Säulensignale in Größe und Richtung nieder. Im Rahmen einer Reihenuntersuchung wird die Produktion von 33720 Werkstücken über vier Schichten hinweg messtechnisch erfasst und ausgewertet. Während dieser Reihenuntersuchung finden zwei Produktionsunterbrechungen statt, die sich eindeutig in den Messergebnissen bzw. in veränderten Säulenbelastungen widerspiegeln.

Das Rahmen- und Antriebskonzept der verwendeten Presse hat grundsätzlich einen entscheidenden Einfluss auf die mit dem Mess- und Analysesystem ermittelten Signale. Bei einer biegeweichen Presse sind die Biegemomentbelastungen an den Führungssäulen des Werkzeugs sehr groß. Aus den großen Momentenbelastungen resultieren sehr starke Ausgangssignale, die die Erkennung von Fehlern im Ziehprozess leicht machen. Auch bei einer relativ biegesteifen Konstruktion einer Tor-Gestellpresse ist die Erkennung von Prozessfehlern mit dem System möglich.

Die Differenzen in den Biegemomentbelastungen an den Führungssäulen sind groß genug, um eine deutliche Abweichung zur Referenzbelastung erkennen zu lassen; ein direkter und absoluter Vergleich der an den Führungssäulen messbaren Belastungsverläufe eines Werkzeuges, das auf unterschiedlichen Pressen mit unterschiedlichen Antriebs- und Rahmenkonzepten zum Einsatz kommt, ist daher nicht möglich. Eine On-Line-Prozessüberwachung ist mit dem System aufgrund der Qualität der gemessenen Signale gut realisierbar. Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten. Nach der Aufnahme eines Referenzverlaufes für die Biegemomente über einen Pressenhub werden vom Bediener durch die Eingabe von tolerierbaren prozentualen Abweichungen von der Soll-Kurve Hüllkurven generiert. Bei Über- oder Unterschreitung einer der Hüllkurven werden vom System entsprechende Maßnahmen eingeleitet, um eventuelle Schäden an der Presse oder am Werkzeug zu vermeiden.

Eine andere Möglichkeit zur Erkennung von z.B. Rissen im Werkstück stellt die Überwachung und Analyse der Steigung der Biegemomentverläufe dar. Für die untersuchten Werkzeuge wird ein pressen- und werkzeugspezifischer Fehlerkatalog erstellt, der eine leichte Erkennung von Fehlern durch Abweichung der Kurven von einer Referenz ermöglicht und der bestimmte Signale bestimmten Ursachen zuordnet. Durch FEM-Berechnungen können wesentliche, im Experiment beobachtete Phänomene abgebildet und bestätigt werden. Dies betrifft vor allem das Verfonnungsverhalten (Verschiebung der Oberplatte in Richtung der Außermittigkeit). Der von den Säulen aufgenommene Lastanteil wird über die Kontaktstellen richtig abgetragen. Das Phänomen der ungleichen Säulenbelastung (Säule in Richtung der Außermittigkeit wird stärker belastet) kann ebenfalls durch die FEM-Rechnungen reproduziert werden.

Diese Übereinstimmungen mit dem realen Verhalten sind als Indiz für die Validität des verwendeten Modells in dem vorgegebenen Gültigkeitsrahmen zu werten. Die FEM-Simulationsrechnungen sind die Basis zur Erlangung grundsätzlicher Aussagen über das Spannungs-, Verformungs- und Kontaktverhalten der Säulen. So ist die Berechtigung der Annahme "Punktkontakt" sowie die Modellierung der Belastung einer Säule Produkt der FEM-Simulation und unabdingbare Voraussetzung für die weitere Problemlösung. Des weiteren baut auf den Ergebnissen der Simulationsrechnungen ein Referenzmodell auf, das die Vergleichsdatenbasis für die analytische Beschreibung bzw. für die Beurteilung der auf diesem Wege erzielbaren Lösungsgüte bildet.

Generell kann festgestellt werden, dass dieses Modell sowohl für die hydraulische C-Gestellpresse als auch die mechanische Torgestellpresse die realen Verhältnisse für die signifikanten Kenngrößen Kippung und Versatz über weite Strecken qualitativ und auch wertmäßig richtig widerspiegelt. Damit ist die prinzipielle Möglichkeit gegeben, aus den Säulensignalen direkt Rückschlüsse auf die Verhältnisse an der interessierenden Wirkstelle (Werkzeugschließebene ) hinsichtlich der Deformationen und der zugehörigen summarischen Kraftgrößen zu ziehen und deren Größe zu bestimmen. Während bei der weichen C-Gestellpresse der Maschineneinfluss (vertikale Auffederung) überwiegt, kommt es bei der Torgestellpresse auf Grund der großen Pressensteifigkeit zu einer verstärkten Deformation des Werkzeuges, die sich in der Verspannung der Säulen gegeneinander dokumentiert.


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